Bornholm, den 26. Juni 1998

Liebe Lisa,
gestern hatten wir die Motorradtour und Egon war dabei.
Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Auf dem kleinen, gemütlichen Marktplatz von Rönne hatten sich viele Motorradfahrer zum Start eingefunden.
Punkt 19.oo Uhr ging die ‚Fahrt ins Blaue' los. Kreuz und quer über die Insel, durch kleine Straßen und über holprige Wege mit Haarnadelkurven. Egon ist im Eierbecher hin- und her gekullert, Kopf über und Kopf unter, ich gebe zu, ich war richtig schadenfroh, weil er doch so ein Großmaul ist.
Letztendlich hat er alles gut überstanden aber ein wenig grün war er schon im Gesicht obwohl er am Schluss behauptet hat, es hätte ihm absolut nichts ausgemacht, im Gegenteil, seinetwegen hätte es gern viel wilder zugehen können! Alter Angeber, der.
Nach dem Mittagsessen -es gab gebratene Scholle- habe ich mich mit Egon in die Hängematte gelegt. Vorsichtshalber hatte ich eine Klarsichtfolie über den Eierbecher gespannt, denn Du weißt ja, mit wie viel Schwung man in die Hängematte hechten muss und als diese dann endlich still hing, habe ich Egon ausgewickelt und ihn gebeten, mit seiner Lebensgeschichte anzufangen:
„Das erste, an das ich mich erinnere ist, dass ich zwischen riesigen Dinos gelebt habe. Das war teilweise sehr gefährlich, denn diese großen Biester brachten es glatt fertig, einem auf den Kopf zu treten. Ich weiß noch, dass plötzlich ein irrsinniger Sturm auf mich zuraste, mich durch die Luft wirbelte und ins Wasser schleuderte. Auf dem Meeresgrund muss ich sehr, sehr lange gelegen haben, ob es 10 oder 10000 Jahre waren, keine blasse Ahnung? Irgendwann bemerkte ich, dass eine leichte Strömung mich mit zog. Mit großem Interesse betrachtete ich meine neue Umgebung.
An wunderschönen Korallen schwamm ich vorbei und begegnete vielen Fischen, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Sie waren freundlich und es war eine geradezu himmlische Ruhe so tief unter der Wasseroberfläche. Ich fühlte mich rundum wohl.
Eines Tages ließ ich mich von einer Welle auf eine Insel tragen. Am Strand beobachtete ich zwei Männer, die auf ein Floß stiegen, ich sofort hinterher und so fuhr ich mit aufs Meer hinaus. Ich hörte, wie der weiße zu dem braunen Mann sagte: "Freitag, einmal wird ein Schiff kommen und man wird uns abholen. Du kommst mit mir nach Hause und wir werden berühmt sein, denn ich will ein Buch über unsere Abenteuer schreiben mit dem Titel "Robinson Crusoe". Weiter draußen ließ ich mich wieder ins Meer fallen und auf den Boden sinken.
Bei einem meiner nächsten Landgänge (an die Reihenfolge erinnere ich mich nicht mehr so genau) begegnete ich einer wunderschönen Dame. Ein Windhauch hatte mich in eine gefüllte Obstschale geweht, die von einer Dienerin in ein Badezimmer gebracht wurde, in dem die besagte Dame in Eselsmilch badete. Weil ich mich zu weit über den Rand der Obstschale beugte, fiel ich direkt in den goldenen Seifennapf. Beim Anblick dieser Frau, begann mein Herz wild zu rasen und um ein Haar wäre ich in die Wanne gefallen, zum Glück konnte ich meinen durchtrainierten Körper ausbalancieren!!
Der Dame wurde ein Handtuch gereicht, in welches mit goldenem Garn der Name Kleopatra eingestickt war und als sie sich darin einwickelte um in den Garten zu schreiten, krallte ich mich daran fest und machte mich bei der nächst besten Gelegenheit aus dem Staub.
Einige Jahre später geriet ich ungewollt zwischen Büffelherden und jede Menge wilder Pferde bis ich endlich vor einem Zelt niederfiel. Kaum hatte ich mich ein wenig zur Seite gerollt, da wurde die Zelttür aufgeschlagen. Ein stolzer, stattlicher Mann mit roter Hautfarbe, glänzenden, schwarzen Haaren und einem herrlichen Federschmuck auf dem Kopf trat heraus. Ein begeistertes „whow!' entfuhr mir. Der rote Mann sah - ohne sich zu beugen - zu mir herab und sagte: „Nicht whow. "How" heißt „Guten Tag bei uns Indianern.“
Dann ging er auf einen weißen Mann zu, umarmte ihn und fragte: "Hatte mein Blutsbruder Old Shatterhand eine angenehme Nacht?" "Ja, mein roter Bruder Winnetou, antwortete dieser, "ich habe sehr gut geschlafen!“
Bei dem Wort schlafen fällt mir auf, dass die Sonne fast untergegangen und es in der Hängematte richtig kalt geworden ist. Ich sage Egon, dass wir für heute Schluss machen und ins Bett gehen wollen. "Ja klar" sagt er, "nur etwas muss ich noch schnell erzählen. Kürzlich kam ich bei meinen stetigen Reisen um die ganze Welt noch einmal in diese Gegend. Ich wollte Winnetou wiedersehen, denn immerhin war er der erste Mensch, der einen Satz zu mir gesprochen hatte.
Ach, ich habe schlimmes gesehen. Keine Büffelherden, keine wilden Pferde, keine Indianer. Statt dessen Wolkenkratzer, hoch, höher am höchsten und jede Menge Autos - aber von Winnetou und seinem Pferd keine Spur.
Die letzten Worte hat Egon nur noch gemurmelt und jetzt ist er auch schon eingeschlafen. Ich kann zusehen, wie ich mit ihm aus der Hängematte herauskomme. Oh, Mäuschen, ich sage Dir, ich bin krumm, lahm und durchgefroren.

Hier kommt für Dich ganz schnell ein Gute-Nacht-Küßchen, bis Morgen; Omi

® & © by Ingrid Waschke

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