Bornholm, den 28. Juni 1998

Hallo mein Schatz,
eben ist ein Gewitter über uns weggezogen, mit Blitz, Donner und starkem Regen. Jetzt sitze ich mit Egon auf der Terrasse, er ist ein bisschen mucksch mit mir, weil ich noch keine Zeit für ihn hatte, aber ich denke, das gibt sich gleich wieder und so frage ich ihn einfach wie seine Lebensgeschichte weiter geht.
Egon schlägt lässig seine kurzen Beine übereinander und schon geht's los: "Wenn man sich, wie ich es liebe, über dem Meeresboden treiben lässt, kann es passieren, dass man auch Schiffswracks zu sehen bekommt. Einem Wrack bin ich begegnet, das ist einstmals ein stolzes Schiff gewesen. Das Holz war bereits verrottet und der Rest von Muscheln und Pflanzen fast zugedeckt. Einige Kisten mit Eisenbeschlägen lagen umher, davon stand eine Kiste weit offen. Goldmünzen und Perlen lagen darin und um mir alles genau anzusehen, hüpfte ich hinein.
Bevor ich entziffern konnte, woher die Münzen stammen, kommt ein Riesenkrake und klappt den Deckel zu. Damit nicht genug, dieser Depp dreht die Kiste auch noch um. Viel hat nicht gefehlt, dann hätten mich die Goldmünzen erdrückt. Gerade so eben konnte ich mich in eine winzige Holzritze klemmen aber – ich war gefangen.
Jahrzehnte meines Lebens hat mich meine Neugier gekostet und ich hatte damals geschworen, falls ich jemals wieder herauskomme, immer einen großen Bogen um Schiffswracks zu machen.
Ich saß also in der Kiste und haderte mit meinem Schicksal, da hörte ich plötzlich Klopfgeräusche. Mein Gefängnis wurde umgedreht, der Deckel geöffnet und ich blickte in das Gesicht eines Tauchers. Bevor der noch die Kiste wieder zu klappen konnte, ich schwupp raus und nix wie weg. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich, wie der Taucher mit der Kiste unter dem Arm langsam an die Oberfläche schwamm.
Noch etwas benommen, nahm ich versehentlich eine falsche Abzweigung und wurde mit der Strömung ins Eismeer getrieben. Dort war es so saukalt, dass mir fast der Hintern zugefroren wäre, zu allem Unglück musste ich höllisch aufpassen, dass ich nicht zwischen die Eisberge geriet.
Das war eine harte Zeit und noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so einsam. Kurz bevor mir vor Kälte die Sinne schwanden, entdeckte ich tief unter mir wieder ein Wrack, ein Ozeanriese, der auf dem Meeresboden lag. Ich legte mich auf das Sonnendeck und bemühte mich, den Namen des Schiffes zu entziffern. ‚TITANIC' las ich und während ich noch darüber grübelte, wie so ein großes Schiff überhaupt sinken konnte, wurde es plötzlich hell. Ein Miniunterseeboot kam direkt auf mich zugefahren und machte Filmaufnahmen.
Das alles ist schon ewig lange her und vermutlich hätte ich die Angelegenheit längst vergessen, wenn ich nicht kürzlich meinen alten Freund, den Vater Rhein, in seinem Bett besucht hätte. Vom Rheinufer aus, bemerke ich, wie vor einem großen Haus viele Menschen eine Schlange bilden. Neugierig wie ich bin, lasse ich mich von einer Windbö dorthin bringen, stelle fest, das Haus ist ein Kino Ich hefte mich an eine Schuhsohle, setze mich in die erste Reihe und; Du sitzt hoffentlich gut, sonst schlägst Du nämlich gleich lang hin, ich spiele darin die Hauptrolle!"

So, denke ich, das langt mir jetzt, verscheißern kann ich mich selber, sage dann aber total ernst: "Jetzt weiß ich endlich, warum Du mir gleich so bekannt vorgekommen bist. Ich habe den Film gesehen und selbstverständlich ist mir dabei das Sandkorn aufgefallen, das sämtliche Schauspieler an die Wand gespielt hat. Hätte ich gewusst, dass wir uns auf Bornholm begegnen, ich hätte mir den Film hundertmal hintereinander angesehen!"
Ja, nun ist Egon derjenige, der nicht weiß ob er mir glauben soll oder nicht und um abzulenken beginnt er herzhaft zu gähnen. "Ich bring Dich ins Bett, Du Baron von Münchhausen" sage ich zu ihm "morgen kannst Du mir weiter die Hucke voll spinnen!" "Ph, ich und spinnen" und dann pennt er bereits.

Ganz schnell sagt auch gute Nacht; Omi

® & © by Ingrid Waschke

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