Bornholm, den 29. Juni 1998

Hallo mein Mäuschen,
über Dein Bild haben Opa und ich uns ganz doll gefreut. Natürlich habe ich Egon sofort von Deinem Vorschlag, ihn mit nach Norderstedt zu bringen, erzählt und ... das hätte ich besser nicht getan! Zuerst schnappte er nach Luft wie ein Fisch an Land, gleichzeitig färbte sich sein Gesicht fast lila und dann hat er Schimpfworte ausgestoßen, die ich mein Lebtag noch nie gehört habe und auch niemals wiedergeben werde. Wie ich denn dazu käme, ihm zuzumuten, in Norderstedt zu versauern. Er sei ein Abenteurer, ein Lebemann und Draufgänger und ich käme ihm mit Norderstedt!! Und dann hat er angefangen aufzuzählen:

ER hat sich von Robin Hood mit dem Pfeil zum Sheriff von Nottingham schießen lassen,
ER hat den drei Musketieren das Degenfechten beigebracht,
ER hat sich mit Tarzan von Liane zu Liane geschwungen um Jane zu befreien,
ER hat noch vor Neil Armstrong als erster den Mond betreten,
ER hat mit Walt Disney am Tisch gesessen und die Ohren von Mickey Mouse gezeichnet
und, und, und .....

Er könnte noch Stunden, ach was, Tage lang erzählen, woran er überall beteiligt war und überhaupt, wenn irgendwo auf der Welt 'Sand im Getriebe' sei, dann hätte er seine Hand im Spiel!
Egon muss Luft holen und endlich komme ich zu Wort. Ich erkläre ihm, dass Du, Lisa, ihn so gern einmal persönlich kennen gelernt hättest. Da meinte er, nun würden wir Frauensleute ihn zu allem Überfluss auch noch anbaggern, wir sollten uns ja keine Hoffnung machen, schließlich sei er in festen Händen. "Ach, Du bist verlobt?"
Da wird Egon mit einemmal ganz friedlich und mit Sehnsucht in der Stimme erzählt er, dass er vor langer Zeit einer Auster begegnet sei, die sein Herz im Sturm eroberte. Ihr hat er ewige Treue geschworen und eines fernen Tages, wenn er keine Lust auf Abenteuer mehr hat, wird er zu ihr zurückkehren. Sie wird sich für ihn öffnen, er wird in sie hineinschlüpfen und gemeinsam werden sie aus ihm die schönste Perle machen, die es je gegeben hat.
Egon sieht erschöpft aus, die Aufregung war wohl zu viel für ihn. Ich frage ihn, ob wir wieder Freunde sind und ob er jetzt gern schlafen gehen möchte. Er nickt und ich lege ihn vorsichtig in seinen Eierbecher.

Herzlich grüßt Dich; Omi

® & © by Ingrid Waschke

Der letzte Brief.